Retinale Ganglienzellen: Nervenzellen blinder Mäuse bleiben sehtauglich

Gedruckte Mikroelektroden-Arrays und Patch-Clamp-Setup zur Aufzeichnung der neuronalen Aktivität in der Ex-vivo-Netzhaut von Mäusen. Foto.© Werginz/TU Wien

Wissenschaftler der Technischen Universität (TU) Wien haben mit Mikroelektroden Nervenzellen der Netzhaut untersucht. Diese zeigen ein erstaunlich stabiles Verhalten – eine gute Nachricht für Retina-Implantate.

Die Retina wird oft als „Außenstation des Gehirns“ bezeichnet, da wichtige Schritte der visuellen Signalverarbeitung schon in den Nervenzellen im Auge stattfinden. Wenn Licht auf die Netzhaut fällt, werden Sensorzellen aktiv. Sie schicken elektrische Signale an Schichten von Nervenzellen, die sich direkt dahinter befinden. Von dort werden Signale schließlich ans Gehirn weitergeleitet.

Bisher war aber unklar, wie die Signale der Netzhaut von den nachgeschalteten Nervenzellen genau verarbeitet werden. Experimente an der TU Wien zeigen nun: Die retinalen Ganglienzellen der Netzhaut können unterschiedliche Rollen einnehmen. Damit übernehmen sie wichtige und individuell unterschiedliche Aufgaben für das Sehen. Diese Fähigkeit behalten die retinalen Ganglienzellen sogar dann, wenn Teile der Netzhaut degenerieren. Das sei eine gute Nachricht für die Wiederherstellung des Sehvermögens in blinden Menschen etwa mittels elektronischer Retina-Implantate.

Unterschiedliche Zellen, unterschiedliche Signalmuster

„Wenn Licht auf die Photorezeptoren der Netzhaut fällt, dann werden in den nachgeschalteten Nervenzellen elektrische Signale erzeugt“, erklärt Paul Werginz vom Institut für Biomedizinische Elektronik der TU Wien. „Aber nicht alle Nervenzellen produzieren dieselbe Signalfolge.“ Beim Übergang von hell zu dunkel oder umgekehrt würden gewisse Typen von Nervenzellen zunächst aktiv. Bei manchen Zellen klinge die Frequenz der Signale rasch ab. Andere Zellen jedoch blieben auf hohem Aktivitätsniveau und würden weiterhin ein starkes elektrisches Signal aussenden.

Bislang konnten sich die Forscher nicht erklären, wodurch die unterschiedlichen Aktivitätsmuster entstehen. Denn es handele sich um Zellen derselben Klasse, von denen man auch ein ähnliches Verhalten erwarten würde. „Die Frage war für uns also: Wenn sich die retinalen Ganglienzellen unterschiedlich verhalten, liegt das daran, dass sie in unterschiedliche biologische Schaltkreise eingebunden sind und daher unterschiedliche Eingangs-Signale erhalten? Oder gibt es einen intrinsischen, auf biophysikalischen Prinzipien beruhenden Unterschied, der dazu führt, dass diese Zellen unterschiedliche Signale produzieren, auch wenn sie identische Inputs erhalten?“ so Werginz. „Im zweiten Fall könnte gewissermaßen jedem Ganglienzelltyp eine eigene Bauteil-ID zugeschrieben werden.“

Elektrische Impulse statt Licht

Um das zu testen, verwendeten die Wissenschaftler explantierte Netzhäute von Mäusen. In diesen wurde das gesamte neuronale Netzwerk noch für einige Stunden funktional gehalten. Sie regten die Aktivität der retinalen Ganglienzellen auf zwei verschiedene Arten an: Bestrahlung der Netzhaut mit Licht oder direkte Anregung der Retina mit Hilfe von Strominjektionen. Mit elektrischem Strom können, den Wissenschaftlern zufolge, die biophysikalischen Eigenschaften der Nervenzellen untersucht werden, ohne das vorgeschaltete neuronale Netzwerk miteinzubinden.

„Wir stellten fest: Auch bei direkter Anregung durch Strominjektionen zeigen die Zellen ein sehr ähnliches Signal-Muster, wie sie es bei Lichtbestrahlung produzieren“, berichtet Werginz. „Ganglienzellen, die bei Lichteinfall länger eine erhöhtes Aktivitätsmuster zeigen, tun das auch bei elektrischer Stimulation.“

Dass unterschiedliche Zellen unterschiedliche Signale liefern, liege nicht nur daran, dass sie im Schaltkreis der der Netzhaut unterschiedlichen Input geliefert bekämen. Die Tendenz zu längeren oder kürzeren Signalfolgen sei auch eine intrinsische Eigenschaft der Zellen. „Das ist erstaunlich, dürfte aber für die Signalverarbeitung und das Sehen sehr wichtig sein“, glaubt Werginz. „Vermutlich ergeben sich diese Unterschiede zwischen den Zelltypen schon sehr früh, während der Entwicklungsphase der Netzhaut.“

Stabile Unterschiede – auch bei Blindheit

Die Frage, die sich die Forscher nun stellen, ist: Wenn es sich um intrinsische Eigenschaften der Zellen handelt, bleiben diese Eigenschaften auch stabil, wenn die Zellen ihre Ursprungsfunktion verlieren – etwa, wenn die Photosensoren der Netzhaut nicht mehr funktionieren? Man könnte vermuten, dass sich das Verhalten der Zellen dann ändert. Denn eine Umstrukturierung von Nervenzellen, die nicht mehr auf gewohnte Weise benötigt werde, konnte schon oft beobachtet werden.

Bei den retinalen Ganglienzellen sei das aber anders: „Wir haben die Zellen von Mäusen untersucht, die 200 Tage lang blind waren – und ihre retinalen Ganglienzellen zeigten immer noch genau dieselben Eigenschaften: Manche konnte man mit elektrischen Inputs dazu bringen, kurz aktiv zu sein, andere länger“, erzählt Werginz. Die Zellen behalten ihre Fähigkeit zur Signalverarbeitung bei.

Das sei eine gute Nachricht für die Entwicklung von Retina-Implantaten. Diese könnten mittels Elektrostimulation über tausende Elektroden die verlorengegangenen Photorezeptoren in blinden Patienten ersetzen. „Wenn es stabile Unterschiede zwischen verschiedenen Zelltypen gibt, dann kann man auch nach der Erblindung die vorhandenen Ganglienzellen nutzen und in Zukunft bessere Stimulationstrategien für sie entwickeln“, fügt Werginz abschließend hinzu.