Traum oder Wirklichkeit? Bioaktive Implantate mit BMP-216. Februar 2024 Abb. 1: Dreidimensionale Struktur des rhBMP-2 auf der Grundlage der Röntgenstruktur. A. Sog. Rückgratstruktur (α-Helix, b-Faltblatt), B. Echte 3-D-Struktur mit hydrophilem (weiße Flächen) und Hydrophobem (blaue Flächen) Mosaik. Struktur: Holoprotein (m = 26 kDa) aus zwei kovalent verbundenen identischen Peptidketten, Größe: 2,5 x 3,5 x 7 nm10. Bild: Jennissen Metallische Implantate im Makro-, Mini- und Mikrobereich, die heutzutage weltweit millionenfach eingesetzt werden, haben in den letzen 30 Jahren die Implantologie revolutioniert. Sie dienen unter anderem als Ersatz der Großgelenke, der Zähne und der Ossikel sowie als Gefäßstützen (Stents). Über 300.000 Gelenkimplantate (z. B. Hüfte, Knie) werden in Deutschland pro Jahr, größtenteils zementfrei eingesetzt. Je nach Methode, Implantattyp und Liegezeit wird über Erfolgsraten zwischen 70 und 98 Prozent berichtet. Das Versagen beziehungsweise die Lockerung solcher Implantate ist dabei weniger auf Struktur als auf Oberflächen-Inkompatibilitäten zurückzuführen. Daher gibt es große Anstrengungen, die Primärstabilität, Einheilgeschwindigkeit und Osseointegration insbesondere bei Problempatienten (Osteoporose, Diabetes, Raucher etc.) durch Neugestaltung der Oberflächen zu verbessern. Bioaktivität Wir haben bisher zwei Wege zur Verbesserung der Oberflächenkompatibilität von Metallen eingeschlagen: 1. die Erhöhung der Benetzbarkeit [1], 2. die Verleihung von Bioaktivität [2]. Doch was bedeutet „Bioaktivität“ an einer Oberfläche? Laut Konsensusdefinition ist „ein bioaktives Material ein Material, das entwickelt wurde, um eine spezifische biologische Aktivität zu induzieren“ [3]. Spezifisch ist eine Wirkung, die auf der selektiven Bindung zwischen zwei Biomolekülen zum Beispiel einem Hormon/Mediator und dessen Rezeptor beruht, und als Antwort eine singuläre Signalkaskade in der Zelle auslöst, zum Beispiel in Richtung Osteoinduktion. Eine Oberfläche mit immobilisertem aktiven Bone Morphogenetic Protein 2 (BMP-2) wäre somit bioaktiv. BMP-2 Humanes BMP-2 ist ein kleines, basisches, von Urist 1979 erstmals isoliertes Protein, das aus zwei identischen Polypeptidketten mit jeweils 114 Aminosäuren (m = 12905 Da) besteht (Abb. 1). BMPs gehören zur Superfamilie der „transforming growth factor“ (TGF-b) Proteine, die über 20 verschiedene Proteine umfasst. Die rekombinante Herstellung von humanem BMP-2 erfolgt entweder als Glyco protein in Hamsterzellen oder in der nicht glycosylierten Form in E. coli4. Beide Formen weisen äquivalente biologische Aktivitäten und Rezeptorbindungseigenschaften auf [4]. Klinisch zugelassen ist die glycosylierte Form. Je nach Messmethode liegen die Bindungsaffinitäten (KD-Wert) bei 2-90 nM (0,5 µg/ml ~ 20 nM). Durch rezeptormediierte Phosphorylierung werden Typ-I-Rezeptoren von Typ-II-Rezeptoren aktiviert und das Signal über die Smad- oder die Non-Smad-Signalkaskade transduziert, wobei primär Chemotaxis, Mitose und Differenzierung bei Knochenvorläuferzellen ausgelöst werden. Herstellung bioaktiver Titanoberflächen Mit dem Ziel im Auge, ein Implantat auf einfache Weise herzustellen, das seine eigene Einheilung fördert, haben wir im Jahr 1999 erstmals über die „Biologisierung“ von Titanoberflächen mit immobilisiertem rhBMP-2 berichtet5. Kurz darauf gelang der Nachweis, dass das immobilisierte rhBMP-2 in vivo in der Lage war, Knochen zu induzieren. [6,7] Für die Biologisierung der Oberfläche mit rhBMP-2 wurden zwei Wege beschritten [2]: 1. die nichtkovalente (adsorptive) und 2. die kovalente Immobilisierung. In beiden Fällen wurde die Titanoberfläche vorher mit Propylaminogruppen funktionalisiert [1,2]. An diese Gruppen konnte das BMP-2 entweder über die Propylreste hydrophob (Abb. 1) adsorbiert oder über die Aminogruppen nach deren Aktivierung kovalent gebunden werden. Entscheidend zum Erfolg beigetragen hat die Tatsache, dass von Anfang an über eine radioaktive Markierung des rhBMP-2 (125I-rhBMP-2) jeder Schritt in der Biologisierung der Oberfläche quantifiziert werden konnte. Periimplantäre Aktivität von immobilisiertem rhbmp-2 im Tier Zur Untersuchung der periimplantären Aktivität des immobilisierten rhBMP-2 wurden Spaltüberbrückungsexperimente im Schaf (3 Tiere, 24 Implantate) durchgeführt [2]. Verwendet wurden hantelförmige Implantate, deren Stab im Titan-Plasma-Spray (TPS)-Verfahren mit cp Titan beschichtet war (Schichtdicke 375-450 µm, Ra ~ 30 µm, Porosität 20-40 %, spez. Oberfläche 20 cm2/cm2). Sie wurden im trabekulären Knochen des distalen Femurkondylus implantiert. Selbst hergestelltes rhBMP-2 (nicht glycosyliert) wurde in Mengen von 5-8 µg/cm2 adsorptiv und kovalent immobilisiert (Abb. 2). Im Falle der adsorptiven Immobilisierung konnte die Dissoziationskonstante (KD) auf etwa 10-12 M geschätzt werden, ein Wert, der mehrere Größenordnungen über der Affinität einer Antigen-Antikörper-Wechselwirkung liegt. Die Freisetzung des rhBMP-2 erfolgte in Form einer zweiphasigen Exponenzialfunktion [2] mit einer ersten schnellen Phase (ca. 15 % Freisetzung der immobilisierten Menge) und Halbwertszeiten von ein bis zwei Tagen sowie einer langsamen Phase (ca. 85 % Freisetzung) mit Halbwertszeiten von 40 bis 60 Tagen, das heißt im Zeitrahmen der Knochenheilung. Dabei wurden Spaltkonzentrationen des rhBMP-2 von 20-98 nM erreicht. Beide Oberflächen zeigten auch in vitro eine hohe biologische Aktivität. Die Heilung erfolgte ohne Entzündung und ohne Kapselbildungen. Nach vier, neun und zwölf Wochen wurden die Knochendichte (bone density, BD) und der KnochenImplantat-Kontakt (boneimplant contact, BIC) histomorphometrisch bestimmt2, wobei die Implantate mit immobilisiertem rhBMP-2 (Abb. 2C & D) zwei- bis vierfach signifikant erhöhte BD- und BIC-Werte gegenüber der Negativkontrolle aufwiesen. Obwohl immer noch viele Fragen zur Reaktionsweise von rhBMP-2 im periimplantären Raum offen bleiben, zeigen die Experimente eindeutig, dass es möglich ist, sowohl spongiösen als auch kompakten Knochen periimplantär mit initial immobilisiertem rhBMP-2 zu induzieren. Diese Ergebnisse könnten Modellcharakter für künftige klinische Anwendungen besitzen. Abb. 2: Induktion von spongiösem (C) und kompaktem Knochen (D) durch BMP-2 beschichtete Knochenimplantate im Tierversuch (Schaf) nach 9 Wochen. Hantelförmige Implantate wurden im distalen Femurcondylus des Schafes unter den angegebenen Bedingungen in einem Spaltüberbrückungsexperiment (1 mm Spalt) eingesetzt und nach 9 Wochen explantiert. Querschnitte durch den Stab der Hantel (schwarzer Kreis: Ø = 5 mm) ergaben nach Toluidinblau-Anfärbung das obige Bild. Für weitere Details siehe Ref. 2 und den Text. Bild: Jennissen Ausblick: Sonderfall Mensch Anhand der tierexperimentellen Daten könnte man jetzt sagen: Bioaktive Implantate mit BMP-2 werden Wirklichkeit. Für Tiere könnte man dem zustimmen. Doch wir haben, wie man so schön sagt, „die Rechnung ohne den Wirt gemacht“. Der Wirt ist der Mensch, der gegen sein eigenes exogen appliziertes BMP-2 refraktär zu sein scheint. Wie sonst kann man sich bei gleicher Rezeptoraffinität erklären, dass im Tier die Menge von 1 µg6 (Abb. 2B) oder im Spalt ein Konzentration von ~ 20 nM zu einer Knocheninduktion [2] (Abb. 2C & D) führt, wohingegen im Menschen 103- bis 104-fach höhere, unphysiologische Mengen (z. B. 12 mg) und Konzentrationen (z. B. 1,5 mg/ml = 58 µM) [8] für die gleiche Wirkung laut Literatur erforderlich sind. Diese Tatsache wurde nie konsequent publiziert. Bis heute sind die Ursachen für das „refraktäre“ Verhalten des Menschen gegenüber rhBMP-2 nicht bekannt, sehr wohl aber die Folgen und Nebenwirkungen zu hoher rhBMP-2-Dosen zum Beispiel im Wirbelsäulenbereich, wie sie in der Juni-Ausgabe des „Spine Journals“ 2011[9] veröffentlicht wurden, und die ebenfalls von den Verantwortlichen lange „unter Verschluss“ gehalten wurden [9]. So bleibt die physiologische Anwendung von BMP-2 am Menschen zunächst noch ein Traum, doch die gezeigten Tierexperimente (Abb. 2) gelten als „Proof of Principle“ für die Wirksamkeit von Implantaten als Träger von Wachstumsfaktoren. Zur Zeit arbeiten wir in einem Projektverbund mit zwei weiteren Universitäten und der Morphoplant GmbH (Bochum) an der zweiten Generation biologisierter Kochenimplantate, bei der unter anderem das Zusammenwirken mehrerer Wachstumsfaktoren (z. B. VEGF & BMP-2) bei der Knochenbildung berücksichtigt wird. (Beitrag erschienen in der Ausgabe 04/2012 der “Orthopädischen Nachrichten”, 2012;24.) Autor: Prof. Dr. H. JennissenInstitut für Physiologische ChemieUniversität Duisburg-EssenUniversitätsklinikum EssenHufelandstr. 55, 45122 Essen Literatur:1. Jennissen HP. Macromol Symp 2005;225:43-69.2. Chatzinikolaidou M, Lichtinger TK, Müller RT et al. Acta Biomater. 2010;6:4405-4421.3. Williams DF & editor. Definitions in Biomaterials. 1987 Elsevier, Amsterdam, New York.4. Laub M, Chatzinikolaidou M & Jennissen HP. Materialwiss. Werkstofftech 2007;38:1020-1026.5. Jennissen HP, Zumbrink T, Chatzinikolaidou M et al. Materialwiss. Werkstofftech.1999;30:838-845.6. Voggenreiter G, Hartl K, Chatzinikolaidou M et al. Materialwiss. Werkstofftech.2001;32:942-948.7. Jennissen HP. Annals NY Acad Sci.2002;961:139-142.8. Triplett RG, Nevins M, Marx RE et al. J Oral Maxillofac Surg 2009;67:1947-1960.9. The Spine Journal Special Issue on rhBMP-2 Use in the Spine. Carragee E J, Ghanayem A J, Weiner B K et al. Spine 2011;11:453-576.10. Chatzinikolaidou M, Laub M, Rumpf H et al. Materialwiss Werkstofftech 2002;33:720-727. (Ausführliches Literaturverzeichnis beim Verfasser erhältlich.)
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