Überversorgt und trotzdem früher tot – Präventionskrise in Deutschland

Stärkung der sprechenden Medizin lautet eine Forderung der DEGAM angesichts der im europäischen Vergleich niedrigen Lebenserwartung in Deutschland. Foto: ©sebra/stock.adobe.com

Die Lebenserwartung in Deutschland fällt im internationalen Vergleich auffällig niedrig aus, obwohl sich Deutschland eines der teuersten Gesundheitssystem der Welt leistet. Angesichts dieses ernüchternden Ergebnisses fordert die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), den Fokus endlich mehr auf Prävention und Gesundheitskompetenz zu richten.

Ende April veröffentlichten Forschende aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und dem Max-Planck-Institut für demografische Forschung im „European Journal of Epidemiology“ einen Artikel mit dem Titel „The underwhelming German life expectancy“ (deutsch: „Die unzureichende Lebenserwartung in Deutschland“). In diesem verglichen sie die Sterbefälle nach Todesursachen in Deutschland mit sechs ausgewählten Ländern (Frankreich, Japan, Schweiz, Spanien, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von Amerika). Denn: Daten der Human Mortality Database aus dem Jahr 2019 hatten gezeigt, dass die Bundesrepublik unter 16 westeuropäischen Ländern im Hinblick auf die durchschnittliche Lebenserwartung unter den Schlusslichtern rangiert. Wesentliche Ursache für den Rückstand ist dem Team des BiB zufolge eine erhöhte Zahl von Todesfällen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die sich sowohl aus Defiziten bei der Vorbeugung wie auch aus einer späten Diagnose und damit unzureichenden Behandlung ergeben (wir berichteten). 

Angesichts dessen forderte die Nationale Herz-Allianz bereits, in Deutschland einen „Masterplan für kardiovaskuläre Gesundheit“ zu etablieren. Neben vermehrter Prävention und Diagnostik nimmt der Zusammenschluss deutscher herzmedizinischer Fachgesellschaften und Verbände dabei den Ausbau von Notfall-Maßnahmen, bspw. in Form von verpflichtendem Reanimationsunterricht an Schulen, in den Blick. 

Sprechende Medizin stärken

Nun meldet sich auch die DEGAM zu Wort. „Gerade angesichts der immensen Ressourcen, die hierzulande für die Gesundheit ausgegeben werden, müssen diese Zahlen aufrütteln: In Deutschland arbeiten überdurchschnittlich viele Ärztinnen und Ärzte, gleichzeitig gibt es mehr Krankenhaus- und Intensivbetten als in fast allen anderen verglichenen Ländern. Trotzdem sterben die Menschen in Deutschland früher“, hebt die Fachgesellschaft in einer aktuellen Mitteilung hervor.

„Wir setzen uns seit Jahren für mehr Prävention ein. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die sprechende Medizin aufgewertet wird, so dass den hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen endlich mehr Zeit für die Gesundheitsberatung zur Verfügung steht. Anders wird es nicht gelingen, gerade Risikogruppen zu erreichen. Das geht nur im Gespräch“, kommentiert Prof. Martin Scherer, Präsident der DEGAM. „In Deutschland gibt es ein krasses Missverhältnis: Die Anzahl der Arztkontakte pro Person ist extrem hoch – aber die Zeit pro Patient/in, um gesundheitsförderndes Verhalten zu besprechen, viel kürzer als in den verglichenen Ländern.“

Gesunde Lebensweise fördern

Echte Prävention ist nach Ansicht der DEGAM zudem viel mehr als eine medizinische – sie ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe: „Deutschland ist führend im Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker, hat immer noch eine überdurchschnittliche Alkohol- und Raucherquote (und als eines von wenigen Ländern weiterhin kein Werbeverbot für Zigaretten) und einen viel zu hohen Anteil an übergewichtigen und adipösen Menschen. Bei der Ernährung fällt die hohe Rate an tierischen Produkten auf. Auch bei der Bewegung gibt es Defizite,“ ergänzt Dr. Thomas Maibaum, stellvertretender Sprecher der DEGAM-Sektion Prävention.

Gleichzeitig warnt die Fachgesellschaft davor, die Verantwortung alleine bei den Betroffenen abzuladen. „Es ist seit Jahren bekannt, dass eine reine Verhaltensprävention in erster Linie die Menschen erreicht, die sowieso schon gesundheitsbewusst leben. Bei der Verhältnisprävention, über die seit Jahren diskutiert wird, kommt Deutschland weder bei der Forschung noch in der Praxis der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (Public Health) wirklich voran. Erste und längst überfällige Schritte wären: Einführung Zuckersteuer, Werbeverbot für Tabakprodukte, Raucherentwöhnung als Kassenleistung, Subventionierung von gesunder Ernährung in Kindergarten und Schule und mehr Sportangebote für jede Altersstufe“, fordert Scherer. „Nur so können wir bei der Lebenserwartung zumindest den internationalen Durchschnitt erreichen.“

Statine früher einsetzen

In Bezug auf die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen geht die DEGAM davon aus, dass die kardiovaskuläre Krankheitslast auch medikamentös effektiver reduziert werden kann: „Bei Menschen mit hohem absoluten und relativen Herzinfarkt-Risiko sollten verstärkt Statine verschrieben werden“, fasst Dr. Uwe Popert, Sprecher der DEGAM-Sektion Hausärztliche Praxis, den aktuellen Wissensstand zusammen. „In Deutschland liegt die Indikationsgrenze derzeit bei einem 20-prozentigen Risiko, dass innerhalb von zehn Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis (zum Beispiel Herzinfarkt) auftritt. Im europäischen Ausland liegt die Indikationsschwelle meist bei zehn Prozent. Auch Deutschland sollte diesen Wert insbesondere für Jüngere bei zehn Prozent ansetzen, um eine problematische Verzögerung der Behandlung zu vermeiden.“

(ah)