Umfassende Genstudie zur Lippen-Kiefer-Gaumenspalte

Dr. Kerstin U. Ludwig (l.) und Dr. Julia Welzenbach vom Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn. (Foto: © Barbara Frommann/Uni Bonn)

Die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ist eine der häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Sie hat vor allem genetische Ursachen. Welche Erbanlagen genau betroffen sind, ist aber noch weitgehend unbekannt. Eine neue internationale Studie unter Federführung der Universität Bonn liefert dazu nun neue Einblicke. 

Die Forschenden vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Bonn kombinierten in ihrer Arbeit verschiedene Datenquellen miteinander. Sie stießen so einerseits auf fünf neue DNA-Regionen, in denen Variationen der DNA-Sequenz mit einem erhöhten Risiko der Fehlbildung einhergehen. Insgesamt sind nun 45 solche Risiko-Regionen bekannt. Für einige davon konnten die Beteiligten zudem zeigen, welche Gene von diesen Veränderungen betroffen sind. „Unsere Ergebnisse liefern neue Einblicke in die Entstehung der Erkrankung, aber auch in die Entwicklung des Gesichts im frühen Embryo insgesamt“, erklärt Dr. Kerstin Ludwig.

Ludwig leitet am Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn eine Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe, die sich mit den genetischen Ursachen der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte beschäftigt. Auf mehr als 90 Prozent wird der durchschnittliche Beitrag der Erbanlagen zu dieser häufigen Fehlbildung geschätzt. „Der genetische Beitrag ist komplex“, sagt Ludwig. „Das heißt, es gibt nicht nur ein Gen, sondern eine ganze Reihe von Erbanlagen, die zu der Fehlbildung beitragen.“

Daten bereits publizierter Genomstudien kombiniert

In den vergangene Jahren sind eine ganze Reihe genoweiter Assoziations-Studien (GWAS) erschienen. „Wir haben nun die Daten bereits publizierter GWAS kombiniert“, erklärt Dr. Julia Welzenbach, die in Ludwigs Arbeitsgruppe als Postdoktorandin die Studie geleitet hat. Dadurch ist es möglich, auch solche Veränderungen der DNA zu finden, die das Risiko für die Fehlbildung nur gering erhöhen und die daher in Einzelstudien übersehen werden. „Wir haben auf diese Weise fünf Risikoregionen identifiziert, die vorher unbekannt waren“, sagt Welzenbach.

Zu einem besseren Verständnis der Krankheit trägt das nicht automatisch bei. Denn nur etwa zwei Prozent der DNA enthält tatsächlich genetische Informationen im Sinne einer direkten Bauanleitung für Proteine. Wozu die restlichen 98 Prozent da sind, beginnt die Wissenschaft gerade erst zu verstehen. „Die 45 Risiko-Regionen, die wir heute kennen, liegen alle innerhalb dieser 98 Prozent, die wir auch als nicht kodierende Bereiche bezeichnen“, erklärt Welzenbach.

Heute weiß man, dass ein Teil der nicht kodierenden DNA dazu dient, die Aktivität von Genen zu regulieren. Manche dieser DNA-Bereiche sorgen zum Beispiel dafür, dass ein bestimmtes Gen häufiger oder in bestimmten Geweben abgelesen wird. 

Mutationen betreffen regulatorische DNA-Elemente

In jeder Zelle sind zu einem bestimmten Entwicklungszeitpunkt nur bestimmte Gene aktiv. Es gibt also ein zelltyp- und zeitspezifisches Aktivitätsmuster von Erbanlagen. „Man kennt inzwischen einige regulatorische DNA-Sequenzen, die während der frühen Gesichtsentwicklung des Embryos als silencer oder enhancer wirken“, sagt Ludwig. „Wir konnten für manche der genetischen Veränderungen aus den GWAS-Daten zeigen, dass sie diese regulatorischen Sequenzen betreffen, und so auch zeigen, welche Gene dadurch in ihrer Aktivität zu- oder abnehmen.“

Vermutlich ändert jede der 45 heute bekannten Mutationen die Wirkung eines Enhancers oder Silencers. Sie stören damit das genau austarierte Aktivitätsmuster der Gene, die für die fehlerfreie Entwicklung des Gesichts eine Rolle spielen. Und diese Störung ist es, die in vielen Fällen zu einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte führt.

Originalpublikation:
Welzenbach J et al. Integrative approaches generate insights into the architecture of non-syndromic cleft lip with or without cleft palate. Human Genetics and Genomics Advances, 8. Juli 2021