Warum erreichen Innovationen aus der Forschung die Klinik nicht?

Michael Gelinsky (Foto: hr)

Forschung bringt ständig neue medizintechnische Innovationen hervor, doch warum erreichen diese nur selten die Klinik? Gründe dafür erläuterte auf dem DKOU ein Experte aus Dresden.

Prof. Michael Gelinsky, der am Zentrum für Translationale Knochen-, Gelenk- und Weichgewebeforschung am Universitätsklinikum Dresden forscht ging der spannenden Frage nach, in dem er „provokante Gedanken“ zur Beantwortung formulierte, die sicherlich auch etwas zugespitzt seien.

Die Wissenschaft hat sich zu einem „Business“ entwickelt und folgt ihren eigenen Gesetzen

Laut Gelinsky ist die Drittmittelfinanzierung eine der Gründe, „warum man ständig auf neue Pferde in der Forschung setzt und nicht nachhaltig arbeitet“. Es werde häufig zu Themen geforscht, zu denen es viele Ausschreibungen gebe und bei denen mehr Gelder für die Forschung zu holen sind. Als ein Beispiel nannte Gelinsky die Forschung zu antibiotischen Implantatoberflächen. „Ein großes Thema, an dem wahnsinnig viel geforscht wurde.“ Komme ein solches Implantat aber mit Blut in Berührung, bleibe zumeist von der antibiotischen Wirkung nicht mehr viel übrig. „Die Translation für diese interessante Forschung ist schlicht zu langwierig“, so Gelinsky.

Die Forschung folgt (immer wieder neuen) Modethemen und ist immer weniger an Translation interessiert

Am Beispiel des Knochen-Tissue-Engineering erläuterte Gelinsky, welche Themen en vogue sind. Eine Pubmed-Abfrage, die er kurz zuvor zu dem Thema durchgeführt hatte, zeigte mehr als 28.000 Publikationen an. „Knochen-Tissue-Engineering ist in der Wissenschaft groß abgebildet und ihm wird über Publikationen ein großes Potenzial zugeschrieben, kommt aber aus diversen Gründen nicht in der Klinik an“, kommentierte er.

Die Zulassungsprozesse für Medizinprodukte sind kaum noch durchschaubar und nicht wissenschaftlich begründet

Im Folgenden erklärte Gelinsky die Unterteilung von Medizinprodukten in unterschiedliche Klassen, was fundamentale Folgen für die Inmarktbringung mit sich bringt. Die Zuteilung zu den „Medical divices“, „Medical products used in combination with a medical device“ oder „Advanced Therapy Medicinal Products“ habe entscheidende Konsequenzen darüber, ob es ein Produkt in die Klinik schafft. „Calciumphosphate etwa sind bereits groß im Einsatz und als Medical devices klassifiziert. Spannend für die Wirkungsoptimierung auf die Knochen, aber auch in der Folge für die Zulassung, ist dem Experten zufolge der Austausch von Calcium durch das im Periodensystem nahestehende Strontium. „Diese Veränderung erzeugt ein Kombinationsprodukt, das in der Zulassung so viel teurer ist, dass es keiner mehr macht. Das ist absurd, da in den Körper eingebrachtes Calcium natürlich auch eine Wirkung hat“, so der Forscher. Dies werde aber auch ausgeblendet.

Die Zulassungsprozesse für Medizinprodukte sind extrem zeitaufwendig und damit kaum noch finanzierbar

Gelinsky warf eine Folie an die Wand, die den Effekt des „Valley of Death“ in der Produktenwicklung demonstrierte, in welchem Produktinnovationen häufig untergehen. Dieses Tal tut sich auf zwischen der Grundlagenforschung und der Marktzulassung. Währenddessen schwinden kontinuierlich die Forschungsressourcen, noch bevor die klinische Testung bis zum Nachweis der Überlegenheit und schließlich die Marktreife zum Tragen kommen. „Selbst wenn man Fördertöpfe findet, um das Valley of Death zu überschreiten, beginnen ja dann erst die klinischen Testungen und weitere zehn Jahre bis die Kassen solche Produkte bezahlen. Kein Start-up kann solche Zeiträume überleben“, betonte Gelinsky.

Die Industrie ist nicht wirklich an Innovationen interessiert

Für seine letzte These hatte der Forscher willkürlich die öffentlich zugänglichen Umsatzerlöse der Firma Stryker aus den Jahren 2017 bis 2023 aus dem Netz gezogen. Diese waren in diesem Zeitraum von rund 12.000 auf rund 20.000 Millionen US-Dollar gestiegen. „In O&U sind neue Biomaterialien oder Implantate aber fast immer alternative und keine völlig neuartigen Lösungen“, betonte der Experte. Zudem stünden die Produkte am Markt in Konkurrenz zu bereits etablierten Produkten, deren Entwicklungskosten bereits abgezahlt sind. „Warum also sollte eine Firma in ein neues Biomaterial oder Implantat investieren, das selten so viel besser ist, dass es einen relevanten Marktanteil erobern kann?“, stellte er als Frage in den Raum. Er konstatierte zudem, dass große Firmen nur noch selten forschen, sondern lieber Start-ups einkauften, deren Entwicklungskosten zumeist durch hohe öffentliche Zuwendungen finanziert worden sind.

Fehlendes Wissen unter Medizinern, um Innovationen von Scheininnovationen zu unterscheiden

Auf den Punkt gebracht kritisierte Gelinsky, dass sich Wissenschaftler zu sehr in ihrer Blase einrichteten und infolgedessen zwangsläufig Modethemen aufgriffen, um wirtschaftlich zu überleben. Zulassungsprozesse bezeichnete er als innovationsfeindlich und Implantatehersteller verdienten ihr Geld lieber mit bereits etablierten Produkten. „Medizinern fehlt die Ausbildung, um echte Innovationen von Scheininnovationen unterscheiden zu können”, bedauerte er in seinem Fazit. (hr)