Wie ein Gen die Architektur des menschlichen Gehirns formt

Hirnorganioide in einem Probenröhrchen. (Foto: © Susanne Diederich)

Wie das menschliche Gehirn seine außergewöhnliche Komplexität erlangt, beschäftigt Forschende weltweit. Ein Team am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen hat nun mithilfe von Organoiden aufgezeigt, dass das Gen ARHGAP11A entscheidend zur Gehirnentwicklung beiträgt. 

Das menschliche Gehirn unterscheidet uns wie kein anderes Organ von anderen Lebewesen. Es ermöglicht Sprache, abstraktes Denken, komplexes Sozialverhalten und Kultur. Doch wie kann sich dieses außergewöhnlich leistungsfähige Organ entwickeln und wie wird sichergestellt, dass sich Nerven- und Stützzellen an genau den richtigen Stellen bilden, um die Komplexität des menschlichen Gehirns auszubilden?

Ein Team um Dr. Julia Ladewig am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim und Dr. Michael Heide am Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen ist dieser Frage auf molekularer Ebene nachgegangen. Wie es in „Cell Reports“ berichtet, spielt das Gen ARHGAP11A eine Schlüsselrolle bei der Organisation der Gehirnentwicklung.

ARHGAP11A sorgt für Ordnung im Stammzelllager 

Im sich entwickelnden Gehirn liegt tief im Inneren die Ventrikelzone. Dort bringen spezialisierte Stammzellen immer wieder neue Nervenzellen hervor. Damit diese Zellen wissen, wie sie sich teilen, wohin sie wandern und wann sie sich zu Nervenzellen entwickeln sollen, müssen sie ihr inneres Gerüst, das Zellskelett, ständig umbauen. Die Forschenden haben nun herausgefunden, dass ARHGAP11A diese Prozesse wesentlich steuert. Es sorgt dafür, dass die Stammzellen während der Zellteilung ihre Orientierung behalten und die Architektur der Ventrikelzone stabil bleibt.

Wenn Orientierung verloren geht

Fehlt ARHGAP11A, verlieren die Stammzellen ihre Ordnung, lösen sich zu früh aus dem Gewebe und beginnen sich in Nervenzellen umzuwandeln. Das führt dazu, dass das Stammzellreservoir zu schnell aufgebraucht wird. In der Folge fehlen später wichtige Zelltypen, etwa Stützzellen, die für die Reifung und Stabilität des Gehirns unverzichtbar sind.

Das ARHGAP11A-Protein wirkt dabei wie ein molekularer Schalter. Es reguliert sogenannte Rho-GTPasen, kleine Moleküle, die das Zellskelett kontrollieren und damit bestimmen, wie sich Zellen formen, teilen und bewegen. Dadurch kann ARHGAP11A sicherstellen, dass die Vorläuferzellen ihre Form behalten und sich korrekt in der Ventrikelzone anordnen.

Gehirn-Organoide liefern entscheidende Einblicke

Um diese Mechanismen im Detail zu erforschen, nutzten die Forschenden Gehirn-Organoide. Damit konnten sie nachvollziehen, wie ARHGAP11A die Zellarchitektur formt und wie eine Störung dieses Mechanismus Fehlentwicklungen verursacht.

Bemerkenswerterweise konnten die Forschenden auf diese Weise zeigen, dass eine kurzfristige pharmakologische Hemmung der überaktiven Signalwege die Fehlentwicklung teilweise rückgängig macht. „Das zeigt, dass sich dieser Entwicklungsprozess des Gehirns prinzipiell beeinflussen lässt“, erklärt Erstautor Yannick Hass, Mitarbeiter am Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR) sowie am ZI in Mannheim.

Unerreichte Präzision durch Gehirn-Organoide

Die Studie verdeutlicht, dass Mausmodelle die Komplexität der menschlichen Gehirnentwicklung nicht vollständig abbilden können. „In Mausgewebe ließen sich die gleichen Effekte nach dem Verlust von ARHGAP11A nicht nachweisen. Das unterstreicht, wie wichtig menschliche Organoid-Modelle für die biomedizinische Forschung geworden sind“, erläutert Dr. Michal Heide, Leiter der Arbeitsgruppe Gehirnentwicklung und -evolution am Deutschen Primatenzentrum.

Auch Dr. Julia Ladewig, Leiterin der Arbeitsgruppe für entwicklungsassoziierte Erkrankungen des Gehirns am ZI, betont die Bedeutung des Ansatzes: „Gehirn-Organoide eröffnen uns die Möglichkeit, die Entwicklung des menschlichen Gehirns in bisher unerreichter Präzision zu untersuchen. Damit können wir sowohl seine evolutionären Besonderheiten besser verstehen als auch neue Einblicke in Entwicklungsstörungen und psychiatrische Erkrankungen gewinnen.“

Neue Diagnose- und Therapieansätze ermöglichen

Langfristig soll die Forschung helfen, genetische Risikofaktoren für neuroentwicklungsbedingte Erkrankungen besser zu verstehen. Dazu gehören etwa Mikrozephalie oder neuronale Heterotopien, bei denen Nervenzellen während der Gehirnentwicklung an falsche Stellen wandern. Den Forschenden zufolge kann das gewonnene Wissen die Grundlage für neue Diagnose- und Therapieansätze schaffen und so langfristig zur Verbesserung der Behandlung solcher seltenen Erkrankungen beitragen.