Zucker oder künstlicher Süßstoff? Darmzellen erkennen den Unterschied17. Januar 2022 Der Gewebeschnitt eines Mausdarms zeigt in Grün die relativ wenigen Neuropodenzellen im Epithel. (Foto: © Borhóquez Lab, Duke University) Während die Geschmacksknospen bei der Unterscheidung zwischen echtem Zucker und einem künstlichen Süßungsmittel irren können, gibt es Zellen im Darm, die dazu in der Lage sind. Und: Sie können dem Gehirn den Unterschied in Millisekunden mitteilen. Kurz nachdem der Rezeptor für süßen Geschmack vor 20 Jahren bei Mäusen identifiziert worden war, versuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, diese Geschmacksknospen auszuschalten. Überrascht stellten sie aber fest, dass Mäuse natürlichen Zucker immer noch irgendwie erkennen konnten und gegenüber künstlichen Süßstoffen den Vorzug gaben – auch ohne den entsprechenden Geschmackssinn. Die Lösung dieses Rätsels liegt viel weiter unten im Verdauungstrakt, am oberen Ende des Darms gleich hinter dem Magen: Das zeigt eine Studie, die unter der Leitung von Prof. Diego Bohórquez von der Duke University School of Medicine (USA) durchgeführt wurde. In der gerade in „Nature Neuroscience“ publizierten Arbeit „haben wir die Zellen identifiziert, die uns dazu bringen, Zucker zu konsumieren, und sie befinden sich im Darm“, berichtet Bohórquez. Die Infusion von Zucker direkt in das Kolon hat dem Forscher zufolge nicht die gleiche Wirkung. Die Sensorzellen befinden sich im oberen Bereich des Darms, erklärt Bohórquez . Nach der Entdeckung von als Neuropoden bezeichneten Darmzellen hat Bohórquez mit seinem Forschungsteam die entscheidende Rolle dieser Zellen als Verbindung zwischen dem, was sich im Darm befindet, und ihrem Einfluss auf das Gehirn untersucht. Der Darm, so argumentiert der Wissenschaftler, kommuniziere direkt mit dem Gehirn und verändere unser Essverhalten. Und langfristig könnten diese Erkenntnisse zu ganz neuen Wegen der Behandlung von Krankheiten führen. Ursprünglich wegen ihrer Fähigkeit zur Absonderung von Hormonen als enteroendokrine Zellen bezeichnet, können spezialisierte Neuropoden über schnelle synaptische Verbindungen mit Neuronen kommunizieren. Die Neuropoden sind über die gesamte Schleimhaut des oberen Darms verteilt. Das Forschungsteam um Bohórquez hat gezeigt, dass diese Zellen nicht nur relativ langsam wirkende Hormonsignale produzieren, sondern auch schnell wirkende Neurotransmittersignale, die innerhalb von Millisekunden den Vagusnerv und dann das Gehirn erreichen. Laut Bohórquez zeigen die neuesten Ergebnisse seiner Arbeitsgruppe auch, dass Neuropoden Sinneszellen des Nervensystems sind – ebenso wie Geschmacksknospen auf der Zunge oder die Zapfen in der Netzhaut des Auges. „Diese Zellen funktionieren genau wie die Zapfen der Netzhaut, die die Wellenlänge des Lichts wahrnehmen können“, erklärt Bohórquez. „Sie registrieren Spuren von Zucker im Vergleich zu Süßstoff und setzen dann verschiedene Neurotransmitter frei, die in verschiedene Zellen des Vagusnervs gelangen. Letztendlich weiß das Tier dann ‚das ist Zucker‘ oder ‚das ist Süßstoff‘.“ Unter Verwendung von im Labor gezüchteten Organoiden aus Maus- und menschlichen Zellen, die den Dünndarm und den Zwölffingerdarm darstellten, zeigten die Forschenden in einem kleinen Experiment, dass echter Zucker einzelne Neuropoden dazu anregte, Glutamat als Neurotransmitter freizusetzen. Künstlicher Zucker löste die Freisetzung eines anderen Neurotransmitters, ATP, aus. Mithilfe der Optogenetik konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dann die Neuropoden im Darm einer lebenden Maus ein- und ausschalten, um zu zeigen, ob die Vorliebe des Versuchstieres für echten Zucker durch Signale aus dem Darm angetrieben wurde. Die Schlüsseltechnologie für die optogenetische Arbeit bestand in einer neuen flexiblen Wellenleiterfaser, die von Forschenden des Massachusetts Institute of Technology (USA) entwickelt wurde. Mit dieser flexiblen Faser lässt sich Licht durch den gesamten Darm eines lebenden Tieres senden, um eine genetische Reaktion auszulösen, die die Neuropoden stumm schaltet. Mit abgeschalteten Neuropoden zeigte das Versuchstier keine klare Präferenz mehr für echten Zucker. „Bei der Nahrung, die wir zu uns nehmen, vertrauen wir auf unseren Bauch“, sagt Bohórquez. „Zucker hat sowohl Geschmack als auch Nährwert, und der Darm kann beides erkennen.“ „Viele Menschen haben mit dem Verlangen nach Zucker zu kämpfen. Jetzt verstehen wir besser, wie der Darm Zucker wahrnimmt – und warum künstliche Süßstoffe dieses Verlangen nicht zügeln“, erläutert Kelly Buchanan vom Massachusetts General Hospital, eine der Erstautoren der Studie. „Wir hoffen, diesen Prozess auf die Behandlung von Krankheiten ausrichten zu können, die wir jeden Tag in der Klinik sehen.“ In zukünftigen Arbeiten, will Bohórquez zeigen, wie diese Zellen auch andere Makronährstoffe erkennen. „Wir sprechen immer von ‚Bauchgefühl‘ und sagen Dinge wie ‚Vertraue deinem Bauchgefühl‘ – nun, da ist etwas dran“, sagte Bohórquez. „Wir können das Verhalten einer Maus vom Darm aus verändern“, konstatiert der Forscher – ein Umstand, der ihn auf neue Therapien hoffen lässt, die auf den Darm abzielen.
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