Zukunftsfragen der Medizin31. Oktober 2025 Die Presidents‘ Session des DKOU wagte einen Blick in die Zukunft. Prävention, Longevity, Demokratie – ihre Bedeutung für Medizin und Gesellschaft waren die Themen. „Alte Knochen – was nun?“ Unter dieser Überschrift stand die gemeinsame Session der Kongresspräsidenten Prof. Christoph Lohmann, Prof. Ulrich Stöckle und Dr. Stefan Middeldorf. Dazu hatten sie renommierte Experten eingeladen, um spannende Zukunftsfragen aus deren Blickwinkel zu erläutern. Ist Prävention die Lösung gegen den demografischen Wandel? „Prävention“, so Prof. Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité, „wird nicht der, aber ein wesentlicher Bestandteil der Medizin der Zukunft sein.“ Er wies auf das Missverhältnis von In- und Output des Deutschen Gesundheitssystem hin, demnach Deutschland zwar die höchste Zahl an Krankenhausaufenthalten aufweise, bei den gesunden Lebensjahren aber knapp unter dem Durchschnitt der EU liege. Und es droht noch mehr Ungemach. Demografiebedingt wird laut Kroemer ein steigender Pflege- und Behandlungsbedarf auf ein knapper werdendes Gesundheitspersonal treffen. „Pflegende werden selbst zu Pflegekräften. Und weil qualifizierte Kräfte fehlen, werden wir 2035 knapp 1,8 Millionen offene Stellen im Gesundheitssystem nicht mehr besetzen können“, konstatierte Kroemer. „Dass wir in diese Mangelsituation kommen werden, wussten wir bereits seit 50 Jahren. Diese Herausforderung zu lösen kann laut Kroemer nur mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, Strukturreformen und Prävention gelingen. „Prävention ist vielleicht kein Geschäftsmodell von Krankenhäusern, aber sie hat Potenzial“, zeigte er sich überzeugt und machte dies an einem Beispiel aus Singapur deutlich – einem Staat, der noch stärker vom demografischen Wandel betroffen ist als Deutschland. In dem Stadtstaat wurde der Uniklinik die gesundheitliche Versorgung eines großen Stadtgebietes übertragen. Da diese Zuweisung von 100.000 Menschen die Klinik aber überforderte, startete diese eine riesiges Präventionsprogramm mit zum Teil einfachen, aber auch wirkungsvollen Lösungen. So zum Beispiel alle Steckdosen in der Höhe von mindestens 40 cm an den Wänden angebracht, sodass Ältere nicht mehr über Kabel fallen können. Auch die Charité hat sich die Prävention zur Aufgabe gemacht. Bis zum Jahr 2030 sollen Forschungsschwerpunkte zur Gesunderhaltung und Prävention sowie Präventionsstrategien für die breite Bevölkerung aufgebaut werden, erläuterte der Vorstandsvorsitzende der Charité die Strategie. Außerdem werde ein Life-Science Campus am Standort Benjamin Franklin der Charité entwickelt. Dieser wird mithilfe einer Zuwendung von 70 Millionen Euro der Verlegerin Elfriede Springer und sieben Millionen vom Land Berlin gefördert und hat vor allem die Erforschung und Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen zum Ziel. Zudem geht die Charité Kooperationen mit der Industrie ein. „Das Auto mit seinen vielen Sensoren ist der ideale Ort für Prävention“, so Kroemer. So könne man in Berlin derzeit einen BMW mit Charité-Aufdruck auf der Tür beobachten. Ziel sei die KI-basierte Erfassung und Analyse von Vitalparametern des Fahrers beispielsweise über eine HD-Kamera, die den Blutdruck an dessen Gesicht ablesen könne. Mit Siemens wiederum arbeite man an digitaler Bildgebung und Digital Twins zusammen, um Prävention zu stärken. „Der demografische Wandel ist weit unterschätzt. Vor allem Prävention, die bisher nicht gut in unserem Gesundheitssystem integriert ist, kann hierbei zu einem erheblichen wirtschaftlichen Faktor werden“, schloss Kroemer. Wie gesund viel älter als100 Jahre werden? Unter „Mission Gesundheit“ stellte Dr. Hadi Saleh das Thema Longevity vor. Der Arzt und Unternehmer berichtete, dass er nach einem dreijährigen Aufenthalt in den USA an dem bisherigen Tiefpunkt seiner körperlichen Fitness angelangt war und daraufhin beschloss, sein Leben grundlegend zu ändern mit dem Ziel, gesund 120 Jahre alt zu werden. – das Ziel von Longevity. Habe man zu Beginn des 19. Jahrhundert allein durch Hygienemaßnahmen das durchschnittliche Lebensalter immer weiter erhöhen können und bis in die 80er Jahre das Durchschnittsalter auf 84 Jahre mehr als verdoppeln können, so seien parallel dazu auch die Gesundheitsrisiken mit dem Alter gestiegen. „Für 50-Jährige ist das Risiko einer Krebserkrankung schon 100fach, für 70-Jährige bereits 1000fach erhöht“, so Saleh. Altern werde deshalb von der WHO auch als Ursache von Krankheiten anerkannt. Longevity stützt sich dem Mediziner zufolge auf medizinischen Fortschritt, weshalb „für alle vier Jahre, die wir leben, ein weiteres dazukommt. In 15 bis 20 Jahren könne diese Verhältnis schon bei 1:1 liegen. In der Folge berichtete er von diversen Ansatzpunkten zur Longevity. Zum Beispiel Schlaf, dessen Bedeutung für die Regeneration auf Zellebene immer besser verstanden werde. „Wer weniger als sechs Stunden schläft, erhöht das Risiko für Demenz oder aber Übergewicht, weil die Lust auf zuckerhaltige Lebensmittel steigt.“ Ebenfalls in den Fokus rückt die Bedeutung von sozialer Interaktion und Bewegung für die Lebenserwartung. In vielen Studien seien deutliche Effekte belegt worden. Einsamkeit vermeiden und Kadio-, aber vor allem Krafttraining, seien ein guter Beginn für mehr Lebensjahre. Jedem, der an einem langen Leben interessiert ist, empfahl er auch eine Ganzkörperbildgebung und Genomanalysen sowie Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen. So könne man seine persönlichen Risiken besser einschätzen und gegensteuern. Kann Medizin die Demokratie retten? Dritter Referent der Presidents’ Session war der Vorstandsvorsitzende und Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Magdeburg, Prof. Hans-Jochen Heinze, mit seinem Vortrag „Ungewissheit und Demokratie – Die zweite Aufklärung“. Darin setzte er die Demokratie in Bezug zur Medizin und zeigte sich davon überzeugt, dass „Medizin für die Demokratie in Zukunft eine große Rolle spielen wird“. Seine Beobachtung und These zu Beginn: „Die Demokratie erodiert.“ Über die vergangen 19 Jahre hinweg gebe der Freedom-In-The-World-Score“ Anlass zum Bedenken. Der Anteil von Ländern, bei denen die Freiheit zunahm, war immer geringer verglichen zu den Ländern, bei denen Freiheiten abnahmen. Im vergangenen Jahr erhielten 34 Länder einen positiven aber 60 Länder einen negativen Freiheitsscore. „Die demokratischen Leitplanken verlieren an Kraft“, interpretierte Heinze. Die menschliche Würde und der Wahrheitsbegriff verlieren dem Mediziner zufolge kontinuierlich an Attraktivität. Aber warum? Es sei die Ungewissheit, die Menschen aufgrund geopolitscher Krisen, technologischer Revolutionen und virtueller Welten mit Post-Wahrheitseinstellungen verspürten und dazu verleiteten sich irgendwem oder irgendwelchen Ideologien anzuschließen. „Aus Ungewissheit wird Unsicherheit und in der Folge verschwindet das Vertrauen“, so der Neurologe. Was aber hat die Biologie des Menschen mit Demokratie zu tun? Laut Heinze entfaltet sich der menschliche Geist durch biologische Gesetzte und Bedingungen (Gehirn+Körper+Umgebung). Und nur ein entfalteter Geist ließe Demokratie gelingen. Die biologischen Bedingungen geistiger Entfaltung sei schließlich die Aufgabe der Medizin, so Heinze. Dass Menschen zur Ideologisierung neigen, verdeutlichte Heinze an einem Experiment aus den USA. Dort wurde Anhängern von Demokraten und Republikanern Filme im MRT gezeigt, um Veränderungen im Gehirn währenddessen zu beobachten. Unter anderem wurde eine Debatte zwischen Politikern beider Parteien gezeigt. Das Ergebnis: Ideologien – in diesem Fall die Parteizugehörigkeit – können bereits die Wahrnehmung verändern. Medizin wiederum habe die Möglichkeit die Selbstgewissheit des Menschen zu stärken und seine Ungewissheit zu überwinden. Das Gehirn funktioniert dabei wie eine Vorhersage-Maschine menschlichen Verhaltens. Die Ansätze sind dem Mediziner zufolge mannigfaltig, etwa über Lebensstilbeeinflussung, pränatale Beratung zur emotionalen Entwicklung von Kindern oder aber die Früherkennung hirnbiologischer und psychiatrischer Störungen. Für das besonders schwerwiegende Problem, dass immer mehr Menschen Realitäten verkennen, machte Heinze den Missbrauch von sozialen Medien verantwortlich und bezeichnete dies als einen „historisch beispiellosen Angriff auf die geistige Integrität“. Doch was sollte gegen diesen Missbrauch unternommen werden? Das viel diskutierte Handyverbot für besonders anfällige junge Menschen macht Heinze zufolge keinen Sinn. „Wir müssen reale Alternativen bieten, die besser sind als die virtuelle Welt“, forderte er und zitierte die Studie „Youth-Brain-Health“, die die Auswirkung eines begleitenden polytechnischen Praktikums mit handwerklichen Tätigkeiten während der Schulausbildung untersuchte. Von Schülern die rein klassischen Unterricht erhielten und von Schülern mit integriertem polytechnischen Praktikum wurden die Handynutzungsdaten erfasst, zudem wurden sie neuropsychologisch getestet. Aus den Ergebnissen wurde schließlich die Hypothese abgeleitet, dass handwerkliche Arbeit im Team zu einer signifikanten Verbesserung sozialer und exekutiver Fähigkeiten führt. Das komplexe Zusammenspiel von Wahrheit, Teamgeist und Selbstgewissheit, die jeweils über gesellschaftliche, wirtschaftliche und medizinische Ansätze gefördert werden können, stärkt laut Heinze letztendlich die Demokratie. (hr/BIERMANN)
Mehr erfahren zu: "KI-Modelle für Medikamentenentwicklung versagen bei der Physik" KI-Modelle für Medikamentenentwicklung versagen bei der Physik KI-Programme können die Entwicklung von Medikamenten unterstützen, indem sie die Wechselwirkung von Proteinen mit kleinen Molekülen vorhersagen. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass diese Programme nur Muster auswendig lernen, statt physikalische […]
Mehr erfahren zu: "Pilotprojekt NRW: Die ersten Konsequenzen der Krankenhausreform sind spür- und unabwendbar" Pilotprojekt NRW: Die ersten Konsequenzen der Krankenhausreform sind spür- und unabwendbar Wie geht es weiter mit der Krankenhausreform in der neuen Koalition? Und was bedeuten die Ablehnungsbescheide von O&U-Leistungsbereichen, die in Nordrhein-Westfalen verschickt wurden, für Kliniken und Ärzte? Diese Fragen wurden […]
Mehr erfahren zu: "E-Patientenakten füllen sich – und sorgen für Verwirrung" E-Patientenakten füllen sich – und sorgen für Verwirrung Befunde, Laborwerte und andere Gesundheitsdaten: Versicherte können sie digital parat haben, denn seit einem Monat müssen medizinische Einrichtungen sie in die E-Akte laden. Für so manchen Patienten halten die Einträge […]