Defektes Enzym als Auslöser für Nervenverlust bei Demenz identifiziert

Im Labor gezüchtete Gehirnzellen aus humanen Stammzellen: Farbstoffe markieren typische Merkmale kortikaler Nervenzellen (grün und rot) sowie die Zellkerne (blau). (Quelle: © Tanja Orschmann & Svenja Lorenz)

Forschende von Helmholtz Munich, der Technischen Universität München und des LMU Klinikums haben einen Mechanismus entschlüsselt, der Nervenzellen vor Ferroptose schützt. Die Ergebnisse eröffnen neue Ansatzpunkte für die Erforschung zukünftiger Therapien – insbesondere bei schwerer frühkindlicher Demenz.

Warum sterben Nervenzellen bei Demenz – und lässt sich dieser Prozess bremsen? Ein internationales Team um Prof. Marcus Conrad, Direktor des Instituts für Metabolismus und Zelltod bei Helmholtz Munich, beschreibt im Fachjournal „Cell“, wie sich Nervenzellen gegen das Zelltodprogramm Ferroptose schützen.

Zentral für diesen Schutzmechanismus ist das Selenoenzym Glutathionperoxidase 4 (GPX4). Eine einzelne Mutation in dem Gen, das für GPX4 codiert, kann einen entscheidenden bis dato unbekannten Bestandteil der Enzymfunktion zerstören. Das führt bei betroffenen Kindern zu einer schweren frühkindlichen Demenz. Ist es voll funktionsfähig, taucht GPX4 mit einer Proteinschlaufe, einer Art Finne, von innen in die Zellmembran der Nervenzellen ein. Dort macht es schädliche Substanzen, die Lipidperoxide, unschädlich.

Surfen auf der Zellmembran

„Man kann sich GPX4 wie eine Art Surfbrett vorstellen“, erklärt Conrad. „Mit der Finne in die Zellmembran eingetaucht, surft es auf dieser herum – und beseitigt schädliche Lipidperoxide.“ Eine bei Kindern mit frühkindlicher Demenz gefundene Punktmutation verändert jedoch die flossenartige Proteinschlaufe von GPX4. Das Enzym taucht nicht mehr so effizient in die Zellmembran ein, dass es seine Schutzfunktion erfüllen kann. Die Lipidperoxide schädigen nun die Membran, was letztlich die Ferroptose auslöst. Die Nervenzellen sterben ab.

Ausgangspunkt der Studie waren drei Kinder in den USA, die an einer extrem seltenen Form frühkindlicher Demenz leiden. Bei allen dreien liegt dieselbe genetische Veränderung im GPX4-Gen vor (R152H). Dank der Zellproben eines betroffenen Kindes konnten die Forschenden die Auswirkungen der Mutation näher studieren. Dessen Zellen setzten sie in einen stammzellartigen Zustand zurück und züchteten daraus Nervenzellen der Großhirnrinde sowie Hirnorganoide.

Ohne funktionsfähiges GPX4 entwickelt sich Demenz

Um zu verstehen, was im gesamten Organismus passiert, übertrug das Team die R152H-Mutation anschließend auf ein Mausmodell. Dort veränderte es das Enzym GPX4 in unterschiedlichen Nervenzellen. Dadurch traten nach und nach Bewegungsstörungen auf, Nervenzellen gingen im Groß- und im Kleinhirn verloren und es entwickelten sich starke Entzündungsreaktionen. Dieses Bild passte gut zu den Beobachtungen bei den betroffenen Kindern und erinnerte stark an neurodegenerative Krankheitsbilder erinnert.

Parallel dazu untersuchten die Forschenden im experimentellen Modell, welche Proteine im Gehirn in ihrer Menge verändert waren. Dabei zeigte sich ein Muster, das auffallend dem bei Patienten mit Alzheimer-Demenz ähnelt: Zahlreiche Proteine, die bei Alzheimer erhöht oder vermindert sind, waren auch im Mausmodell ohne funktionsfähiges GPX4 fehlreguliert. Das deutet darauf hin, dass ferroptotischer Stress nicht nur bei dieser seltenen frühkindlichen Erkrankung, sondern möglicherweise auch bei vielfach häufigeren Formen von Demenz eine wichtige Rolle spielt.

Ein neuer Blick auf die Ursachen von Demenz

„Unsere Daten sprechen dafür, dass Ferroptose eine treibende Kraft hinter dem Sterben von Nervenzellen sein kann – nicht nur ein Nebeneffekt“, erklärt Dr. Svenja Lorenz, eine Erstautorin der Studie. „Bisher lag der Fokus bei Demenzerkrankungen oft auf Eiweißablagerungen im Gehirn, den Amyloid-ß-Plaques. Wir rücken nun stärker die Schädigungen an den Zellmembranen in den Blick, die diesen Zerfall überhaupt erst auslösen.“

Erste Experimente zeigen zudem, dass sich der durch GPX4-Verlust ausgelöste Zelltod in Zellkulturen und im Mausmodell mit Wirkstoffen bremsen lässt, die speziell die Ferroptose hemmen. „Das ist ein wichtiger Machbarkeitsnachweis, aber noch keine Therapie“, betont Dr. Tobias Seibt, Nephrologe im Transplantationszentrum am LMU Klinikum und Co-Erstautor. Dr. Adam Wahida, ebenfalls Erstautor der Studie, ergänzt: „Langfristig könnten wir uns genetische oder molekulare Strategien vorstellen, die dieses Schutzsystem stabilisieren. Bis dahin bleibt unsere Arbeit klar im Bereich der Grundlagenforschung.“

Grundlagenforschung hilft, Krankheiten ursächlich zu verstehen

Die Studie ist das Ergebnis eines über viele Jahre gewachsenen Verbunds aus Genetik, Strukturbiologie, Stammzellforschung und Neurowissenschaften – mit mehreren Dutzend Forschenden an verschiedenen Standorten weltweit. „Wir haben fast 14 Jahre gebraucht, um einen kleinen bislang unbekannten strukturellen Baustein eines Enzyms mit einer schweren Erkrankung zu verknüpfen“, erklärt Conrad, Professor für Translationale Redoxbiologie an der Technischen Universität München (TUM). „Solche Projekte zeigen eindrücklich, warum wir langfristig finanzierte Grundlagenforschung und internationale, multidisziplinäre Teams brauchen, um komplexe Krankheiten wie Demenz wirklich zu verstehen.“