DGN: Debatte um die Definition von hochverarbeiteten Lebensmitteln verstellt den Blick auf das Wesentliche

Vielen Menschen fällt die Wahl zwischen gesunden und ungesunden Lebensmitteln schwer. (Foto: © beats_ – stco.adobe.com)

Derzeit wird eine Debatte darüber geführt, wie verlässlich aktuelle Studien zu den gesundheitlichen Risiken hochprozessierter Lebensmittel sind. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hält dies für eine schädliche Scheindebatte und fordert stattdessen konkrete Maßnahmen, um bereits Kinder vor Über- und Fehlernährung zu schützen.

Aktuelle Lancet-Studien1–3 zeigen: Ein hoher Konsum ultrahochverarbeiteter Lebensmittel (UPF) steht im Zusammenhang mit einer Vielzahl von Krankheiten – von Adipositas und Diabetes mellitus über Herz-Kreislauf-Leiden bis hin zu neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfall oder Parkinson. Nach Veröffentlichung der Studien haben Kritiker darauf hingewiesen, dass viele dieser Studien auf der NOVA-Klassifikation basieren. Diese Einteilung ist wissenschaftlich durchaus umstritten.

Diskussion geht am eigentlichen Punkt vorbei

„Tatsächlich macht der Grad der Verarbeitung allein ein Lebensmittel nicht automatisch ungesund. Eine Präzisierung der Kategorien und bessere wissenschaftliche Grundlagen sind notwendig, das steht außer Frage“, räumt DGN-Präsidentin Prof. Daniela Berg ein. „Dennoch lenkt die derzeitige Diskussion vom eigentlichen Thema ab, nämlich dass Deutschland ein massives Problem mit unausgewogener Ernährung und einer allgegenwärtigen Überversorgung durch hochkalorische, zucker-, fett- und salzreiche Produkte hat. Wir sollten diskutieren, wie wir unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, insbesondere auch Kinder und Jugendliche, zu einer gesunden Ernährungsweise motivieren und ihnen den diätetischen Wert von frisch zubereiteter Nahrung nahebringen.“

Berg und ihre Kollegin Dr. Eva Schäffer, beide vom UKSH Kiel, kritisieren eine falsche „Incentive-Setzung“ durch Gesellschaft und Politik. „Ein zentrales Problem besteht darin, dass ungesunde hochverarbeitete Produkte nahezu überall leichter zu bekommen sind und häufig günstiger angeboten werden als gesunde Lebensmittel, die reich an Pflanzenstoffen und Ballaststoffen sind“, erläutert Dr. Schäffer. Darüber hinaus würden diese Produkte massiv beworben, insbesondere gegenüber Kindern und Jugendlichen – zunehmend auch über soziale Medien und unter Einsatz marketingstrategischer Konzepte, die aus ethischer und gesundheitlicher Sicht sehr kritisch zu bewerten sind.

Probleme sind seit Langem bekannt, bleiben aber ungelöst

Die Folgen sind überall sichtbar: Die Prävalenz von Adipositas steigt, und zwar schon im Kindesalter, es gibt mehr Diabetes mellitus, mehr Bluthochdruck. Diese Entwicklungen erhöhen langfristig das Risiko für weitere schwere Erkrankungen – in der Neurologie vor allem Schlaganfall und neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson mit stetig steigenden Fallzahlen. Die daraus entstehende Krankheitslast wird das Gesundheitssystem in den kommenden Jahrzehnten erheblich belasten.

„Diese Probleme sind bekannt – und seit Jahren ungelöst. Statt offen darüber zu sprechen und nach Lösungen zu suchen, wird gerade eine Nebenschauplatz-Debatte eröffnet, bei der definitorische Streitpunkte im Vordergrund stehen – und bei vielen Menschen am Ende möglicherweise im Gedächtnis haften bleibt, dass hochverarbeitet Lebensmittel gar nicht so schlimm seien“, kritisiert Berg.

Doch egal, wie man wissenschaftliche Definitionen im Detail fasse, eines ließe sich nicht wegdiskutieren: Hochkalorische Snacks liefern viel Energie, aber kaum Sättigung. Frische, ballaststoffreiche Lebensmittel sättigen dagegen nachhaltiger. „Diese physiologischen Grundlagen sind seit Langem belegt – trotzdem prägen sie die derzeitige gesellschaftspolitische Debatte kaum.“

Prävention muss schon im Kindesalter beginnen

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie sieht daher folgende Maßnahmen im Fokus, um Menschen – insbesondere Kinder – vor Über- und Fehlernährung zu schützen:

  • weniger an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Produkte,
  • bessere und gesündere Schulverpflegung,
  • klare und einfach verständliche Kennzeichnungen für Lebensmittel,
  • Preise, die gesunde Entscheidungen erleichtern,
  • und Vermittlung von Wissen und Sicherheit im Umgang mit Lebensmitteln, und zwar so früh wie möglich.

Auch die schädlichen Effekte von Nikotin und übermäßigem Alkoholkonsum müssen frühzeitig thematisiert werden. „Bereits im Jugendalter sind regelmäßige körperliche Bewegung und geistige Herausforderungen – beispielsweise das Erlernen von Fremdsprachen oder eines Musikinstrumentes – entscheidend für die Hirngesundheit“, ergänzt Prof. Peter Berlit, Pressesprecher der DGN.

„Ob wir ein Produkt „ultra-processed“ nennen oder nicht, ist zweitrangig. Was wir zur Zeit erleben, ist eine ‚Kunst-Debatte‘, die nur der Lebensmittelindustrie und ihrer Lobby hilft. Entscheidend ist hingegen, dass die gesündere Wahl endlich zur einfacheren Wahl wird“, betont die DGN-Präsidentin Berg abschließend.