Multizentrische Studie identifiziert 34 neue genetische Erkrankungen

Photorealistische, synthetische Porträts unterschiedlicher Erkrankungen, die im Kontext der Studie diagnostiziert wurden. Die Bilder wurden mit GestaltGAN erzeugt und ermöglichen keinen Rückschluss auf die Personen. (Quelle: © Aron Kirchhoff | Universitätsklinikum Bonn)

Die Mehrzahl der Seltenen Erkrankungen ist genetisch bedingt. Die zugrundeliegenden Erbgutveränderungen können immer besser identifiziert werden, beispielsweise durch Exom-Sequenzierung, und so zu einer molekulargenetischen Diagnosestellung führen. Eine deutschlandweite Studie hat auf diesem Weg nun 34 neue, bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte genetische Erkrankungen entdeckt.

Um die Versorgung von Patienten mit ultra-seltenen Erkrankungen mittels moderner Diagnosekonzepte zu verbessern, begann Ende 2017 das dreijährige Innovationsfonds-Projekt TRANSLATE NAMSE. Die Forschenden von 16 Unikliniken analysierten die durch Exom-Sequenzierung (ES) gewonnenen Daten von 1577 Patienten, davon 1309 Kinder, die im Rahmen von TRANSLATE NAMSE an Zentren für Seltene Erkrankungen vorgestellt wurden. Ziel des Projektes war es, mittels innovativer Untersuchungsmethoden bei möglichst vielen Patienten eine Erkrankungsursache zu finden. Bei 499 Patienten, davon 425 Kinder, konnte eine genetische Ursache der Seltenen Erkrankung festgestellt werden. Insgesamt fanden die Forschenden Veränderungen in 370 verschiedenen Genen. „Besonders stolz sind wir auf die Entdeckung von 34 neuen molekularen Erkrankungen, die ein schönes Beispiel für die wissensgenerierende Krankenversorgung an Unikliniken sind“, erklärt Dr. Theresa Brunet, eine der Erstautoren vom Institut für Humangenetik des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München.

Wie geht es weiter mit den noch ungelösten Fällen?

„Die Betroffenen, für die wir bisher keine Diagnose finden konnten, werden wir im Rahmen des Modellvorhabens GenomSequenzierung, kurz MVGenomSeq, untersuchen“, berichtet Dr. Tobias Haack, Stellvertretender Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen. MVGenomSeq baut auf den Erfolgen des TRANSLATE NAMSE-Projektes auf und ermöglicht deutschlandweit die Analyse klinischer Genome an Unikliniken. Ungelöste Fälle können außerdem in Folgestudien mittels neuer Untersuchungsmethoden wie der sogenannten long-read-Sequenzierung, die eine Analyse von viel längeren DNA-Fragmenten erlaubt, untersucht werden. „Die long-read-Sequenzierung ermöglicht es uns, schwer erkennbare genetische Veränderungen zu finden und wir gehen davon aus, dass wir mit diesem Verfahren weitere Diagnosen stellen können“, ist Dr. Nadja Ehmke, Leiterin der Genomdiagnostik am Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité, optimistisch.

Im Rahmen des TRANSLATE NAMSE-Projektes wurden auch standardisierte Abläufe zur erweiterten genetischen Diagnostik bei Verdacht auf seltene Erkrankungen an den beteiligten Zentren für Seltene Erkrankungen etabliert, die auf interdisziplinären Fallkonferenzen beruhen. Diese wurden nach Projektabschluss in die Regelversorgung übernommen. „Die interdisziplinären Fallkonferenzen spielen für Betroffene eine wichtige Rolle. Dadurch wird eine umfassende klinische Charakterisierung ermöglicht, die für die Phänotyp-basierte Auswertung der genetischen Daten relevant ist. Darüber hinaus können so die nachgewiesenen Varianten im Kontext der Fragestellung interdisziplinär diskutiert werden“, erklärt Dr. Magdalena Danyel, Fachärztin des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik und Fellow des Clinician Scientist Programm des Berlin Institute of Health (BIH) an der Charité – Universitätsmedizin.

Seltene genetische Erkrankungen lassen sich teils am Gesicht erkennen

Des Weiteren gingen die Forschenden der Frage nach, ob der ergänzende Einsatz von Werkzeugen des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz (KI) die diagnostische Effektivität und Effizienz verbessert. Hierzu wurde die von Bonner Forschenden entwickelte Software „GestaltMatcher“, die mittels computergestützter Gesichtsanalyse die anwendende Person bei der Diagnosestellung Seltener Erkrankungen unterstützt, erstmals in der Breite ausgetestet. In der Studie wurden die Sequenz- und Bilddaten von 224 Personen genutzt, die auch der computergestützten Analyse ihrer Gesichtsbilder zugestimmt hatten, und es konnte gezeigt werden, dass die KI-gestützte Technik einen klinischen Nutzen erbringt.

GestaltMatcher kann Auffälligkeiten im Gesicht erkennen und bestimmten Erkrankungen zuordnen. Eine wichtige Frage bei der Beurteilung von genetischen Daten ist: Passt der Phänotyp zum Genotyp? Hierbei kann die KI unterstützen. „GestaltMatcher ist wie eine Expertenmeinung, die wir jeder ärztlich tätigen Person in Sekundenschnelle zur Verfügung stellen können. Der frühe Zeitpunkt der Diagnosestellung ist für die Betroffenen seltener Erkrankungen und deren Familien von essenzieller Bedeutung. Ein unterstützender Einsatz der Software bei Kinderärztinnen und -ärzten könnte bereits bei Auffälligkeiten während der Kindervorsorgeuntersuchungen U7 mit 21 bis 24 Monaten oder U7a mit 34 bis 36 Monaten sinnvoll sein“, ist Korrespondenzautor Prof. Peter Krawitz, Direktor des Instituts für Genomische Statistik und Bioinformatik (IGSB) am Universitätsklinikum Bonn (UKB), an dem die KI GestaltMatcher entwickelt wird, überzeugt. Die Software und App kann durch die gemeinnützige Arbeitsgemeinschaft für Gen-Diagnostik e.V. (AGD) allen Ärzten bereitgestellt werden.

Beteiligte Institutionen

Neben dem Universitätsklinikum Bonn (UKB) und der Universität Bonn waren die Charité-Universitätsmedizin Berlin, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM), Universitätsklinikum Düsseldorf, Ruhr Universität Bochum, Universitätsklinikum Dresden, Universitätsklinikum Essen, Universitätsklinikum Halle, Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Universitätsklinikum Heidelberg, Universitätsklinikum Schleswig Holstein, LMU Klinikum München, Uniklinik RWTH Aachen, Universitätsklinikum Leipzig, Universitätsklinikum Tübingen und Stellenbosch University, Kapstadt, Südafrika beteiligt.